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Von chinesischen Trinkversen zum modernen Nano-Sonett
#1
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Wer sich schon mal mit den theoretischen Grundlagen und der Geschichte des Sonetts befasst hat, kennt vermutlich den alten Streit ob das Sonett nun in Frankreich oder Italien erfunden wurde. Der Streit wurde zugunsten Italiens entschieden, obwohl angeführte Beispiele gar nicht der späteren strengen Definition entsprechen. Einen aus Paarreimen gebildeten Vierzehnzeiler wie sie Giacomo da Lentini vorgelegt hat, hätte Schlegel jedenfalls nicht als Sonett akzeptiert. Es ist ohnehin fraglich ob ein einzelnes Gedicht schon eine neue Lyrikgattung begründet, oder ob es dazu einer gewissen "Population" bedarf. Schließlich ist der Endreim keine italienische, nicht einmal eine europäische Erfindung. Ein Orientalist hätte sicher keine Probleme ein paar vierzehnzeilige Ghaselen zu finden, die der üblichen Sonettvorstellung näher kommen als manches Lentini-Gedicht. Auch die chinesische Lyrik kennt den Endreim und so könnte man mit Verweis auf Li Bai's Gedicht "月下獨酌" (Alleine trinkend im Mondschein), die Erfindung des Sonetts ohne Weiteres noch 500 Jahre zurückdatieren.

Alleine trinkend im Mondschein


So unter Obstbaumblüten ein Glas Wein
ganz ohne Kompagnon zu kosten,
gefiel es mir dem Vollmond zuzuprosten;
Mit meinem Schatten sind wir schon zu dreien.

Der Mond macht sich nichts aus der Zecherei;
mein Schatten hält sich grad an mir aufrecht.
Den Mond zum Freund, den Schatten als mein Knecht,
muss ich doch feiern, eh der Lenz vorbei!

Das Mondlicht schimmert, passend zum Gesang,
mein Schatten tanzt mit mir, noch etwas schüchtern.
Wir teilen dieses seltne Glück, noch nüchtern;
Betrunken geht ein jeder seinen Gang.

Ach, schwelgen wir noch lange im Genuß!
Wir sehn uns im gestirnten Wolkenfluss!


Was ist nun Anlass für diese Gedanken?

Ende 2023 bekam ich von Dirk Schindelbeck einen Jahreskalender 2024 mit "Nano-Sonetten" und vor Weihnachten, die Nachricht, dass nun ein ganzes Buch mit diesem "neu-entwickelten Gedichtformat erschienen sei.
Neu entwickelt? Ich musste dabei sofort an Johann Heinrich Voss und seine dreiteilige Klingsonate denken, die offenkundig als Sonett-Parodie angelegt ist und deren ersten beiden Teile diesem neuen "Nano-Sonett" entsprechen, dessen Clou es ist, die Zeilen soweit es geht zu verkürzen, im Idealfall auf Reimworte alleine. Ich bin mir recht sicher, dass fündig wird, wer nach weiteren Beispielen sucht, aber dass jemand einen größeren Zyklus oder ein ganzes Buch mit diesen verknappten Sonetten vorgelegt hätte ist mir nicht in Erinnerung. Und so kann man wohl sagen, dass Dirk Schindelbeck das Nano-Sonett wohl nicht erfunden hat, aber von einer Spielerei in den Rang einer Lyrikgattung erhoben hat.

All diese Überlegungen sind natürlich in erste Linie das Glasperlenspiel eines Sonett-Enthusiasten.
Man kann sich auch einfach an den humorvollen Versen erfreuen ohne sich um die Form Gedanken zu machen, wie am folgenden Beispiel

Gut satte Schweizer

Saßen
drei Schweizer
(mit Schneuzer)
im Straßen-

kreuzer,
und aßen
(nein: fraßen)
Greyerzer –

Dem feiern-
den Schlemmen
folgt Qual

(… und Reiern
ins Emmen-
tal).



Dirk Schindelbeck
nano-sonett

erschienen in der
Edition Signathur
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck.
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