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Wahrung der Form
#1
(21.11.2023, 16:48)Christian Jostmann schrieb: Es könnte dies Sonett das letzte sein,
Das ich jemals geschrieben haben werde.
Der Schrecken sind zu viele auf der Erde,
Als dass ein Dichter mit dem Stift allein

Imstande wäre sie zu bannen – nein.
Denn angesichts so vieler Krisenherde
Ist ein Sonett nur hilflose Gebärde,
Ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Doch soll man das Sonett nicht unterschätzen.
In seinen mehr als siebenhundert Jahren
Sah es schon oft den Zeitgeist Messer wetzen,

Sah ganze Völker in die Grube fahren,
Und nichts davon vermochte zu verletzen
Die Form. Sie gilt es alle Zeit zu wahren.


So mancher dachte, dass die Form zu steif war.
Die Formzertrümmerer, die Formverächter;
Im Grunde reden sie die Form nur schlechter,
weil ihre Lehrer ungeschliffne Schleifer
gewesen sind, seellose Tugendwächter
und kryptische Philosophieausschweifer...
Ungreifbar bleibt die Form und unangreifbar!

Ungreifbar, weil sie sich als Ideal
nicht rein betrachten läßt, sich nur bedingt
der Inhalt anpasst. Doch die Stimme singt
nur in der angemessnen Resonanz;
Der Schliff verleiht dem Edelstein Brillianz
und über allem schweben Maß und Zahl.


.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck.
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#2
Oesterreich 
Wir sollten uns nicht auf die Form versteifen,
Als ob sie überall und immer gälte,
Und wenn auch mancher in den Raum schon stellte:
Man müsse das Sonett als Norm begreifen,

So wollen wir uns doch den Zorn verkneifen,
Vielmehr in nüchterner Verstandeskälte
Parieren: Wer ein solches Urteil fällte,
Zählt zweifellos zu den enormen Pfeifen.

Drum wisse, wenn du es bisher nicht wusstest:
Die Form ist eine Möglichkeit von vielen,
Und wenn du dich ihr beugst, tu es mit Lust (es

steht jedem frei die Wahl von tausend Stilen).
Mach’s dir bequem im Bette des Prokrustes:
Der Sinn der Form ist, dass wir mit ihr spielen.
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#3
.


Sich wohlig räkeln im Prokustes-Bett,
gleich einem Fakir, birgt Faszination.
Doch mache nicht die Form zur Attraktion:
Sinn gibt der Inhalt nur - auch im Sonett.

Sie ist Gerüst des Textes und sein Diener.
Nicht Selbstzweck sei dem Dichter seine Regel!
Willst du's mit Rilke halten oder Schlegel?
Wir kennen Jambus und Alexandriner;

Wir kennen Shakespeare- oder Schweifsonette;
Und wer nicht reimen will, nicht Silben zählen,
kann seine Form nach eignem Guto wählen.

Die Regel ist natürlich diskutabel:
Herzschlag und Atem sind auch variabel,
doch Taktgefühl ist mehr als Etiquette.


.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck.
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#4
Oesterreich 
Das Klinggedicht in seiner Formenstrenge,
Mit seiner jambisch-fünfhebigen Statik
Und seiner Vier- und Drei-Reim-Systematik,
Assoziiert man oft mit Zwang und Enge.

Doch wenn ich mich in diese Jacke zwänge,
Dann tu ich’s, weil mich diese Problematik
Reizt, diese Art von Silbenakrobatik,
Das Arrangieren formgebundner Klänge.

Erstaunlich auch die Vielzahl an Geschichten,
Die man erzählen kann in vierzehn Zeilen
mit fünf betonten Silben, und mitnichten

Ein Ende in Sicht. So werd auch ich wohl feilen
An weiteren Sonetten, Klanggedichten,
Und wenn eins glückt, es gern hier mit euch teilen.
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