Sonett-Forum

Normale Version: Goethe - Natur und Kunst
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Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ists mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
Hallo Fabian,

Das ist wohl eines der bekanntesten Sonette überhaupt. Daher mußte ich doch etwas schmunzeln daß es hier bei den 'Fundstücken' auftaucht, aber es ist natürlich ein guter Text, und das Thema für jeden Sonettisten relevant.

Ich hatte das Sonett mal für eine Schreibwerkstatt ausgesucht (die aber nie stattfand). Ich wollte hier mal vorführen wie unterschiedliche Rhythmen wirken können. Den Anfang würde ich vorgeben:


Natur und die Künste: Sie scheinen einander zu fliehen
und haben sich doch, noch bevor man es denkt schon gefunden
...


LG ZaunköniG
achso. Es sollte sich um Raritäten handeln! Nicht so bekannte Sonette.
Das war mir nicht bewusst.
Sorry.

Aber es gibt mir die Gelegenheit, auf den verbogenen Satzbau hinzuweisen. Wink

"sie scheinen sich zu fliehen" Da fehlt doch auch irgendwas.
Das war aber nicht mein Beweggrund, es einzustellen.

Dein Daktylus macht es fast lesenswerter, weil es dahinschwingt. Aber die Aussage passt natürlich herrlich zur formalen Gebundenheit eines Sonetts und zum fünfhebigen Jambus. Wahrscheinlich hat Goethe es deswegen auch als Form gewählt.
Fast beiläufig, aber wohl mit Bedacht, hat er auch gleich in einer entscheidenden Passage einen metrischen Leckerbissen eingebaut.
Als wäre der Vers "Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!" ein Aufruf zum selbigen, ist der Leser angewiesen, die Regel zu beachten und doch ein wenig aus der Norm zu geraten. Fast fällt es nicht auf, dass "redliches" für den Jambus leicht gebeugt werden muss, denn eigentlich ist es ein Daktylus.

Solche Kniffe findet man oft in der klassischen Lyrik, auch metrische Extremrumpler findet man bei den größten Dichtern.
Ich weiß nicht, ob das jetzt passt, aber ich will hier mal eines meiner absoluten Lieblingsgedichte von Rilke posten, indem er unfassbar genial schreibt und an einer Stelle den Leser aus der Fassung bringen will. Leider ist es kein Sonett.

Spätherbst in Venedig

Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder,
der alle aufgetauchten Tage fängt.
Die gläsernen Paläste klingen spröder
an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt
der Sommer wie ein Haufen Marionetten
kopfüber, müde, umgebracht.
Aber vom Grund aus alten Waldskeletten
steigt Willen auf: als sollte über Nacht
der General des Meeres die Galeeren
verdoppeln in dem wachen Arsenal,
um schon die nächste Morgenluft zu teeren
mit einer Flotte, welche ruderschlagend
sich drängt und jäh, mit allen Flaggen tagend,
den großen Wind hat, strahlend und fatal.
-----------

Das "Aber" in der siebten Zeile ist metrisch arg, aber als Zäsur ein Zeichen des Umbruchs.
Das ist für mich perfekt.

Gruß, Fabian
Zitat:"sie scheinen sich zu fliehen" Da fehlt doch auch irgendwas.
Das war aber nicht mein Beweggrund, es einzustellen.

Ich finde nicht, das da etwas fehlt. Subjekt, Prädikat Objekt sind vorhanden, und wer mit 'Sie' gemeint ist, ist doch auch eindeutig.


Die wenigen Sonette Goethes sind, nachdem er sich lange gesträubt hatte in relativ kurzem Abstand erschienen.



Ein anderes Meta-Sonett lautet da:

Sich in erneutem Kunstgebrauch zu üben,
Ist heilge Pflicht, die wir dir auferlegen.
Du kannst dich auch, wie wir, bestimmt bewegen
Nach Tritt und Schritt, wie es dir vorgeschrieben.

Denn eben die Beschränkung läßt sich lieben,
Wenn sich die Geister gar gewaltig regen;
Und wie sie sich denn auch gebärden mögen,
Das Werk zuletzt ist doch vollendet blieben.

So möcht ich selbst in künstlichen Sonetten,
In sprachgewandter Mühe kühnem Stolze,
Das Beste, was Gefühl mir gäbe, reimen;

Nur weiß ich hier mich nicht bequem zu betten.
Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze,
Und müßte nun doch auch mitunter leimen.



Es war für den Meister also auch eine Art Fingerübung, ob er den strengen Regeln des Sonetts gerecht werden kann. Und wenn er die Beschränkung als seinen Maßstab annimmt, dann ist es nur konsequent wenn er sich den strengen und damals schon kanonisierten Regeln Schlegels beugt, statt dann doch um irgendeines Effektes Willen eigene Regeln aufzustellen. Daß er auch in freien Versen dichten kann, hat er ja schon an anderer Stelle bewiesen.
Eine Fingerübung eben auch, den vorgegebenen Inhalt in eine andere Form zu überführen; in meinem Beispiel eben in den Daktylus, oder meinetwegen auch in einen Alexandriner.

Wenn dich solche Fingerübungen reizen können, schau doch mal unter den Kabinettstückchen "Sonette nach aufgegebenem Endreim" und "Sonette nach aufgegebenem Akrostichon" Oder magst du selbst eine Aufgabe stellen? In Zeiten wo es mir an Inspiration fehlt, nutze ich gerne solche Spielereien um mein Handwerkszeug in Gebrauch zu halten. Auch Übersetzungen bieten sich an.


LG ZaunköniG
Nur eine Spielerei,
aber wo ich hier schon einen Anfang gemacht habe, wollte ich die daktylische Version auch zu einem Ende bringen,
nun 4-füßig:



Natur und die Kunst scheinen sich zu entfliehen
und haben sich, eh man es denkt, schon gefunden.
Der Wille zum Streit ist auch mir schon verschwunden
und beide vermögen mich gleich anzuziehen.

Es gilt wohl alleine, sich recht zu bemühen,
und wenn wir dereinst in gemessenen Stunden,
mit Geist und mit Fleiß an die Kunst uns gebunden,
mag frei die Natur uns im Herz wieder glühen.

So ist es mit jeglicher Bildung beschaffen:
Umsonst werden die ungebundenen Geister
nach ihrer Vollendung im Höhenflug streben.

Wer Großes erreichen will, der muß sich raffen,
denn in der Beschränkung erst zeigt sich der Meister,
und nur das Gesetz kann die Freiheit uns geben.
Natur und Gunst, das wird nix mit euch beiden!
Wenn ich so Leute im Gelände seh,
dann überkommt es mich sie anzukleiden,
denn jede Wölbung tut den Augen weh.

Ich weiß nicht ob ich so viel Nacktes übersteh,
an so viel Klarheit kann kein Blick sich weiden:
Hier wackelt, baumelt, wuchert es, oje,
und hagelt schon vor Brüsten, Pimmeln, Scheiden.

Ja, wir sind alle gleich - muss ich das wissen?
Wenn die Nudisten kein Textil vermissen,
warum dann ich? Sind wir tatsächlich gleich?

Her mit Gewändern, her mit Schleiern, Tüllen.
Obwohl die auch nicht alles ganz verhüllen,
halt ich das immer noch für segensreich.
EIN GLEICHES

Mein Kopf ist vom Vorübergang der Weiber
so wirr geworden, dass er nichts mehr hält,
mir ist als ob’s nur Weiber gäbe, Leiber,
und außerhalb der Weiber keine Welt.

Wenn aber draußen in den Urlaubswellen
das echte Meer turnt, ist es mir verhasst:
Ich schwitz am Sandstrand, wo die Körper schwellen
und undercover steht mir dieser Ast.

Schau doch mal her du stramme kleine Blonde,
setz dich zu mir, du üppige Brünette,
meint untersinnlich meine Muskelsonde,

doch wenn sie wirklich kämen, sag, was dann?
Ich glaube kaum, dass ich ein Wort noch hätte
in meinem Kopf. Ich schau sie höchstens an.