Sonett-Forum

Normale Version: Ein neuer Tag
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Es geht das dunkle Glas der Nacht zur Neige,
Nach Osten wendet sich der Augen Blick.
Dort kehrt erst leise, zaghaft noch zurück
Der Unbesiegte, mir gebietend: schweige,

Du Sterblicher, und sieh, wie ich entsteige
Den Klüften, Wäldern, Mooren, dein Geschick
Dir bringend, ob es Fährnis oder Glück,
Des Tages ungewisser Lauf dir zeige.

Ein neuer Tag steht dräuend in den Türen,
Drum frisch und fröhlich, fromm und unverzagt!
Man kann die morgendliche Brise spüren.

Sie macht uns munter für des Glückes Jagd.
Wir wissen nicht, wohin die Pfade führen,
Doch niemand wird gewinnen, der nicht wagt.
Hallo Christian,


Die religiöse/spirituelle Konnotation in den Quartetten verleiht dem Text eine Menge Pathos.
Das kann man so machen, aber es wird nicht ganz klar, wen du da ansprichst. Wer ist dieser Unbesiegte?
Unser monotheistischer Gott erscheint nicht mit dem Morgengrauen, sodern regiert immer und überall.
Aurora wird in der Mythologie weiblich gedacht.
Helios oder ein anderer antiker Sonnengott? Sie gebieten kein Schweigen - sondern im Gegenteil erwecken die Welt aus dem Schlaf. Vermutlich ist dies "Schweige!" ehrfurchtgebietend gemeint, aber so ausgedrückt entsteht ein schiefes Bild bei mir. Es passt nicht zum "frisch und fröhlich, fromm und unverzagt" in Zeile 10. Das sind für mich ganz verschiedene Stimmungen und der Umschwung wird nicht erklärt.

LG ZaunköniG
Hallo ZaunkoeniG,

danke fuer Deine Anmerkungen und Fragen!

Der "Unbesiegte" soll Sol invictus sein, der roemische oder allgemein antike Sonnengott. Es geht also um eine Art heidnisches Lebensgefuehl, den Moment der Ehrfurcht beim Aufgang der Sonne, der den Sterblichen kurz zagen laesst angesichts des unbekannten Tagwerks und Schicksals, das vor ihm und in den Haenden der Goetter liegt, bevor er sich ermannt (das "Frisch fromm froehlich ..." ist eine Aufforderung an sich selbst, deshalb: Ausrufezeichen!), um dem Tag mutig, im Sinn eines "Carpe diem" zu begegnen. Kann man natuerlich als pathetischen Schmock ansehen ... Vorm inneren Auge hatte ich jedenfalls so einen gebildeten Protorenaissance-Menschen des 13. Jahrhunderts ungefaehr, vielleicht aus dem Umkreis der Stauferkaiser, der sich mit solch heidnisch-antikischem Gedankengut gefaellt. Letztlich aber natuerlich eine Klitterung, ich geb's zu :-)

Der "Tag in den Tueren" und die "Brise" sind uebrigens - aus ganz anderer Richtung also - Anlehnungen an Brechts "Gegen Verfuehrung", allerdings umgedreht, denn da steht der Tag in der Tuer, um zu gehen, und der Wind ist der der Nacht ... Aber das nur am Rande.

Schoenen Abend!

Christian