Heinrich J. von Collin           Ueber das Sonett

1771 - 1811

Während in den letztverflossenen Jahren eine Anzahl Dichter das Sonett bis zu den Sternen erhob, sahen andere mit Verachtung auf diese Dichtungsform herab, ohne jedoch, meines Wissens, ihr Verdammungsurtheil zu begründen. Denn die leeren Klingeleyen, die faden Süßigkeiten, die widerlichen Sprachverrenkungen, welche an manchen der neuesten, wahrscheinlich zu schnell aufgeschossenenen Sonette getadelt wurden, fielen ja der Form keineswegs zur Last, da diese Mängel nicht aus ihrem innern Wesen entsprangen. Die nicht glückliche Benennung Sonett (Klinggedicht) konnte manchen zu der Meynung verleiten, als ob diese Dichtungsart keine eigenthümliche Wesenheit hätte, sondern in einem bloßen Reimspiele bestünde; allein das Gegentheil wird jedem bei genauerer Erwägung deutlich werden.

Alle Kunst ringt nach vollständiger Darstellung der Natur. Diese, unermeßlich im Großen und unerschöpflich im Kleinen, in ihrer Unermeßlichkeit und Unerschöpflichkeit zu Anschauung, vollständig, d. h.. unter ihrer Einheit, zu bringen, ist das Bestreben der Poesie. Mit den Telescopen der Epopeen und Dramen gelangen wir durch den Ausblick in das Unermeßliche zur Ahnung, zu dem Glauben an ein Universum. Das Sonett hingegen scheint uns in seinem, auch für das ungeübte Ohr engbeschränkten, scharfbegräntzen Raum einzuladen, mittels Versenkung in die unendliche Fülle, die Einheit des Universums zu suchen und zu finden. Sein ernster, sanfter, gleicher Gang, seine Sparsamkeit des Reimwechsels stimmt das Gemüth zur Erwartung und Feyerlichkeit, seine scharfe Begränzung bewahrt es vor Zerstreuung, und die Harmonie des Ganzen hält es in dem vorgezeichneten Zauberkreise fest.

Der Sonettendichter versenkt sich in sein eigenes Gemüth, weil es keine tiefere Fülle gibt. Nur bedarf er, um nicht eintönig zu werden, eines Reichtums an äußeren Anlässen, welcher die Fülle des Gemüths aufregt, und immer neu erscheinen läßt. Der volle Zauber der Natur wirkte auf Laurens Sänger, aber er wirkte wieder auf sie zurück, und verbreitete über alles den Goldglanz der Liebe.

Wenn in den kleinen Sonetten ein Unendliches, Unerschöpfliches dargestellt wird, wollen wir sie als ein großes Kunstwerk betrachten. Jenen aber, die gewohnt sind, Gedrucktes nach Klafftern zu messen, diene zum Troste, daß der Sonettendichter, wenn er will, Sonett nach Sonett in Ewigkeit abrollen kann, weil der Faden seiner Empfindung nie reißt.

Auch das soll uns nicht anekeln, wenn der Sonettendichter immer von sich spricht. Ist nur seine Individualität rein menschlich, so spricht er zu der Menschheit von der Menschheit.

Mag unsere Sprache doch an weiblichen Reimen arm und eintönig seyn. Vielleicht wird sie hieran durch die Sonette reicher; unsere Sprache ist bildsam. Das Schwere gelingt nur nach manchem vergeblichem Versuche. Dankbar soll und wird das folgende Zeitalter dem gegenwärtigen für das Bestreben seyn, an Melodien eines sanftern südlichen Himmels unsere Sprache zu gewöhnen, aus der bisher die rauhe Alpenluft zu anhaltend wehte.